Tribute to Karin Kestner

Kämpferin für die Gehörlosengemeinschaft

Wenn heute Hausgebärdensprachkurse den Weg für einen sicheren Spracherwerb gehörloser oder stark hörbehinderter Kinder und ihrer hörenden Eltern ebnen, dann ist das in sehr hohen Maße dem unermüdlichen Engagement einer Frau zu verdanken, die einen Großteil ihres Lebens der Gehörlosengemeinschaft widmete.

Karin Kestner.

Die Anfänge...

Schon in den 90er Jahren erkannte Karin Kestner als aktive Gebärdensprachdolmetscherin, dass es praktisch keinerlei sinnvolle Angebote in Deutschland gab, Gebärdensprache zu lernen. Und es war für sie an der Zeit, dass mehr Menschen
Gebärdensprachkenntnisse erwerben konnten, um eine Kommunikation mit Gehörlosen auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Karin war die Vorreiterin für das Lernen mit Videos am Computer. Es war ihr zu verdanken, dass 1996 die erste Version eines Gebärdenwörterbuches mit 777 Schwarz-Weiß-Videos auf CD-ROM erschien. Das war der Vorläufer des heutigen „Großen Wörterbuchs der Deutschen Gebärdensprache“ mit 19.000 Gebärdenvideos, dem allbekannten „Kestner“.

Karin Kestner hatte ein überbordendes Herz für gehörlose und hörgeschädigte Kinder und sie half vielen Eltern dabei, für das Recht ihrer Kinder zu kämpfen und es durchzusetzen.
Kommunikation in Gebärdensprache in der Schule war den Kindern seit Ende des vorletzten Jahrhunderts verboten, was nicht selten mit Gewalt und Strafen durchgesetzt wurde. Statt der Vermittlung der Unterrichtsinhalte in Deutscher Gebärdensprache sollten sich die Kinder in Artikulation und Lippenlesen üben.

Es verstand und versteht sich von selbst, dass auf diese Weise eine erfolgreiche Bildungsvermittlung nicht möglich war und das Bildungsniveau der gehörlosen/hörgeschädigten Kinder dadurch kategorisch eingeschränkt wurde.

Erst 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache durch das Behindertengleichstellungsgesetz als eigenständige Sprache anerkannt. Dies allein genügte jedoch längst nicht aus, um umfangreiche Änderungen in der Unterrichtspraxis der Förderzentren zur Folge zu haben.

 

Mit beharrlichem Kampf insistierte Karin Kestner auf eine Änderung dieser durch nichts gerechtfertigten systematischen Benachteiligung der tauben Kinder und setzte Maßstäbe für Inklusion in der Schule, noch bevor die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland rechtsverbindlich wurde.

Es ist ein großes Stück weit ihr zu verdanken, dass heute Eltern ihre hörbehinderten Kinder mit Gebärdensprachdolmetscher*innen in die Regelschule geben können. Der Weg dorthin war steinig, gerichtliche Kämpfe, vielseitige Widerstände bis hin zur Verweigerung einer Finanzierung durch die Behörden mussten beseitigt werden.

Karin Kestner hat die Rechte der betroffenen Eltern und Kinder mit ihrem Kämpferherz durchgesetzt.Empathisch und temperamentvoll, aber auch hartnäckig und unbequem hat sie in vielen Einzelfällen an der Seite der Eltern die Hürden und Probleme zur rechtlichen und praktischen Umsetzung von inklusiven Settings mit Dolmetschern in Kita und Schule beseitigen können.

Die Anfänge der Hausgebärdensprachkurse

Karin war mit ihren Visionen zur Verbesserung der Situation der Gehörlosengemeinschaft rast- und ruhelos. Was war zum Beispiel mit taub geborenen Kindern hörender Eltern? Ihnen ist es versagt, die Sprache ihrer Eltern zu lernen. Und ihre hörenden Eltern können ihnen meist keine Gebärdensprache beibringen und müssen diese selbst erst erlernen. Bis vor etwa 20 Jahren gab es keinerlei Möglichkeiten bzw. Lehr- und Lernmaterial für Kinder, um die Gebärdensprache zu lernen. Aber auch dieses große Defizit ging Karin Kestner an. Sie schuf das Standardwerk “Tommys Gebärdenwelt“, ein Lernprogramm für Deutsche Gebärdensprache für Kinder ab 3 Jahren, welches noch heute einzigartig ist.

Und wieder wurde sie Anlaufstelle für hilfesuchende Eltern, die sie neben ihrem Beruf als Gebärdensprachdolmetscherin und erfolgreiche Verlegerin ehrenamtlich beriet und bei der Durchsetzung ihrer Rechte, sowie der Rechte ihrer Kinder auf das Lernen der Gebärdensprache in Hauskursen und das Erziehen ihrer Kinder in DGS unterstützte. Gemeinsam mit Rechtsanwalt Alfred Kroll kämpfte sie unermüdlich an dieser Front und bahnte den Weg für eine bessere Bildungssituation tauber und schwerhöriger Kinder.

Und dies auch noch, nachdem ihr eine schwere Erkrankung die Kräfte raubte.

Zitat aus dem Nachruf Karin Kestner:

“Karin hat in vielen Bereichen mit ihrer unnachgiebigen Art, ihrem unbedingten Willen, für gehörlose und hörbehinderte Kinder das Recht auf selbstbestimmtes Leben erkämpft. Niemals wieder sollten gesellschaftliche oder politische Entscheidungen zu Nachteil hörbehinderter Kinder getroffen werden.“

„Eines ihrer letzten größeren Projekte war die Idee und Umsetzung von Hausgebärdensprachkursen. Tommys Gebärdenwelt ist ein guter Start in die Welt der Deutschen Gebärdensprache, aber hörgeschädigte Kinder hörender Eltern, die die DGS nicht als Muttersprache aufnehmen können, benötigen viel mehr. Bevor sie in den Kindergarten kommen, brauchen sie eine vollständige Kommunikation. Für Karin Kestner war es wieder völlig klar, dass dies nur durch individuellen Unterricht, der auf das einzelne Kind, bzw. die Eltern zugeschnitten ist, erreicht werden konnte. Weitere Recherchen in Gesetzestexten waren nötig, bis klar war, wie sie ihre Idee von Hausgebärdensprachkursen umsetzen konnte. Mehrere Gerichtsurteile bestätigten später Karin Kestners Argumentation und machten damit den Weg für die Eltern frei und schafften ein praktisch völlig neues Berufsbild.

Obwohl die Kostenübernahme mittlerweile geklärt ist, müssen allerdings auch heute noch viele Eltern ihre Ansprüche mit juristischer Unterstützung durchsetzen. Ihr Wissen darüber hat Karin Kestner in einem kleinen Handbuch „Hausgebärdensprachkurs für hörgeschädigte Kinder“ für Gebärdensprachdozenten 2018 noch veröffentlicht. Unterdessen bieten in ganz Deutschland viele hörgeschädigte Gebärdensprachdozenten Hausgebärdensprachkurse „nach Kestner“ an und verschaffen den Kindern dadurch die Grundlage für einen vollständigen Bildungserwerb.“

Karin Kestner verstarb am 4. Juni 2019 im Alter von 63 Jahren. Der Verlag Karin Kestner wird unverändert im Sinne von Karin Kestner fortgeführt.

Wir gehen unserer Arbeit im Bereich der Hausgebärdensprachkurse mit großem Respekt und stets im Andenken an Karin Kestner nach.