Gebärdensprache ist für uns ein wirkliches Geschenk

Gebärdensprache ist für uns ein wirkliches Geschenk

Interview mit Nadine und Jette von Deetzen

Ich bin Nadine von Deetzen, 41, hörend; Mama von 4 Kindern (Jan 14, hörend/ Jette, 11 gehörlos , bds. mit CI versorgt/ Joop 8, hörend/ Jella 3, hörend) Ich wohne mit meinem Mann Jörg (41 hörend) und den Kindern in Wiefelstede bei Oldenburg/Ol.

Wie war das damals nach der ärztlichen Diagnose bei Jette, wo habt ihr Hilfe und Beratung erfahren?

Bis zur Diagnose war es ein langer Weg, da man uns bis zum 3. Lebensjahr nicht geglaubt hat, obwohl wir immer wieder gesagt haben: “da stimmt was nicht“. Jette sprach bis dahin kein einziges richtiges Wort. Kurz vor Jettes 3. Geburtstag hatten wir endlich die Diagnose: Beidseitige Schwerhörigkeit. Jette wurde mit Hörgeräten versorgt, uns wurde Mut zugesprochen. Solche Sätze wie „…damit wird sie gut in die Sprache kommen. Das wird alles.“ kamen. Es gab keinerlei Beratung zum Thema Kommunikation. Wir bekamen eine Beratung vom Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Oldenburg (LBZH OL), sie besuchten Jette´s Kindergarten zur Beratung.

Jette bekam schnell einen Integrationsplatz und die Logopädie begann. Jette´s Sprachentwicklung explodierte förmlich, sie hatte in kürzester Zeit vieles aufgeholt. Es gab kaum noch Unterschiede zu gleichaltrigen hörenden Kindern. Mit 5 Jahren fiel die Hörkurve ab und Jette ertaubte immer mehr. 

Kurz vor dem 6. Geburtstag erhielt Jette ihr 1. Cochlea Implantat (CI), das zweite erfolgte ca. 2 Jahre später.  

Auch hier gab es weder von der Klinik noch vom LBZH Hilfe was die Kommunikation anging.  Alle sagten wieder: „Sie bekommt das CI und damit wird sie hören. Wenn es mit der Regelschule nicht klappt, dann geht sie halt auf die Schule des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte und da wird sie klarkommen.“ Gebärdensprache wurde mit keiner einzigen Silbe erwähnt.

Wie habt ihr als Eltern den Anstoß zur bilingualen Förderung in Laut- und Gebärdensprache bekommen?

Dass die Kommunikation in vielen Lebenslagen mit einem hörgeschädigten Kind schwierig ist, haben wir schon ganz früh bemerkt. Wir haben in den Situationen versucht, mit allen uns verfügbaren Mitteln, die Kommunikation aufrecht zu halten. Jette begann damals schon sehr früh sich eigene „Zeichen“ auszudenken, um sich mitteilen zu können. 

Als wir erfuhren das Jette nahezu taub ist und wir die ersten Beratungsgespräche bezüglich des CI´s hatten, machten wir uns immer mehr Gedanken wie die Kommunikation mit einem gehörlosen Kind aussehen wird. Die Abhängigkeit von der Technik machte uns etwas Angst. Wir kannten es schon aus der Zeit mit den Hörgeräten, wo Jette morgens schon mit den

Geräten am Bett stand und flehte, sie tragen zu wollen, da sie sonst nichts mitbekam. Durch Zufall bin ich auf einen Artikel gestoßen, wo eine Mutter darüber berichtete, dass sie die Gebärdensprache für ihre gleichaltrigen Kinder, die ebenfalls mit
CI´s versorgt waren, lernten.

Der Artikel ging mir nicht aus dem Kopf. Ich habe dann angefangen im Internet, auf verschiedenen Plattformen mehr zum Thema Gebärdensprache zu erfahren. Auch Karin Kestners Seite hat mir viele Infos gegeben. Ich fing an Kontakte zu anderen Eltern zu knüpfen. Wir wurden in unserer Idee für Jette die Gebärdensprache zu lernen immer mehr bestärkt und waren uns sicher, dass wir diesen Weg mit Jette gehen wollen.

Für eine durchgängige, sichere und entspannte Kommunikation. Das Thema Gebärdensprache habe ich auch bei Besuchen in der Klinik bei den Ärzten immer mal wieder angesprochen, aber von Gebärdensprache wollten diese nichts hören. 
Es wurde immer nur belächelt. Das war uns aber egal, wir wussten, was wir für Jette wollten.

Wir sind auch Mitglied im Bundeselternverband gehörloser Kinder geworden. Viele Familien gehen den bilingualen Weg mit der Förderung in Laut- und Gebärdensprache. Das alles bestärkte uns noch mehr.

Warum war und ist es für eure Familie wichtig, dass alle DGS lernen?

Jette musste sich schon ganz früh ihren Weg suchen, um kommunizieren zu können. Mit Händen und Füssen…  Das war immer sehr anstrengend für Jette und auch Frustration machte sich immer mehr breit. Aggressionen über jede gescheiterte Kommunikation machte sich bemerkbar. Jeder verlangte das Jette Hören soll und doch endlich anfangen soll zu sprechen. Uns war wichtig eine durchgängige Kommunikationsmöglichkeit zu bekommen. 

 

Jette sollte genauso alles mitbekommen wie alle anderen in der Familie. Sie sollte sich auch ohne Technik wohl fühlen. Einfach unbeschwert und unabhängig von der Technik. Vor allem beschäftigte uns auch die Frage, warum sich Jette immer der hörenden Umwelt anpassen soll, denn auch wir Hörenden können uns anpassen und mit ihr visuell kommunizieren. Hörgeschädigte Kinder erbringen eine hohe Anpassungsleistung.

 

Das ist sehr anstrengend für sie und kostet viel Kraft. Eine Balance zu schaffen ist wichtig und vor allem…. Wenn das Kind glücklich ist, dann läuft alles. Jette ist zufrieden und wir fühlen uns bestätigt. Ich muss ehrlich sagen, dass die Gebärdensprache für uns ein wirkliches Geschenk ist. Ich möchte sie nicht mehr missen. Ich finde sie unabhängig von der Hörschädigung selbst wunderschön und mag auch so gerne gebärden. So ergeht es Jette auch.

Wie habt ihr Gebärdensprache gelernt?

Auf Karins Seite haben wir uns alle Infos zum Hausgebärdensprachkurs angesehen, Die Dozentenliste studiert und Kontakt aufgenommen. Der Kontakt zu den gehörlosen Dozenten vor Ort kam schnell zu Stande, so dass sie uns zum Kennenlernen mit einer Gebärdensprachdolmetscherin besuchten.

Die Stunden für Jette haben wir über das Sozialamt beantragt (Eingliederungshilfe) und unsere Stunden für uns Eltern beim Jugendamt (als Hilfe zur Erziehung).

Zeitgleich habe ich mich bei der Volkshochschule für einen Anfänger- und Fortgeschrittenenkurs angemeldet. Wir hatten bis zur Ertaubung von Jette keinerlei Erfahrung mit Gebärdensprache oder Kontakte in die Gehörlosenwelt. Ich wollte vorweg einen Eindruck von der Sprache und der Gehörlosenkultur bekommen. 

Das Amt hatte vor unserem Antrag noch nie von einem Hausgebärdensprachkurs gehört. Viele Telefonate und Mails waren erforderlich. Das Sozialamt bewilligte Jettes Unterricht nach dem Hilfeplangespräch für 2 x 2 Stunden wöchentlich für ein Jahr. Seitdem beantragen wir jährlich eine neue Weiterbewilligung für das persönliche Budget. Jette bekommt den Hausgebärdensprachkurs jetzt das 6. Jahr.

Unser Antrag beim Jugendamt wurde, ich sag mal, ignoriert. Auch hier waren viele Anrufe und Mails erforderlich. Das Jugendamt lehnte unseren Antrag ab, mit der Begründung, Jette bekäme ja schon Unterricht und wir Eltern wären ja dabei. Wir haben den Vorgang an unseren Anwalt abgegeben, der dann Klage beim Verwaltungsgericht gegen das Jugendamt erhoben hat. Jette konnte zwischenzeitlich schon mal mit ihrem Unterricht beginnen.

Während der Klage forderte das Jugendamt ein Gerichtsgutachten an, aus dem war ersichtlich, dass uns Eltern der Hausgebärdensprachkurs zusteht. Somit wurde uns der Hausgebärdensprachkurs vom Jugendamt noch vor dem Gerichtsurteil bewilligt. Hier bekamen wir auch wöchentlich 2 x 2 Stunden.  Die Bewilligung lief immer für 6 Monate.

Nach einigen Weiterbewilligungsanträgen fragte das Jugendamt nach, wie viele Stunden denn insgesamt erforderlich sind. Nach Vorlage entsprechender Unterlagen bewilligte uns das Jugendamt insgesamt 500 Stunden. Die Gebärdensprachlehrer besuchen uns regelmäßig in unseren 4 Wänden.

Den Hausgebärdensprachkurs (HGK) kann man dabei absolut nicht mit einem Kurs bei der Volkshochschule oder anderen Standardkursen vergleichen. Ich hatte den direkten Vergleich. Beim VHS-Kurs wurden viele Themenbereiche angerissen. Beim HGK gehen die Dozenten individuell auf unsere Bedürfnisse ein.  Es wird das gelehrt was man im Alltag braucht, und zwar in realistischen Situationen.  Wir erlernen die Gebärden, die wir für unseren Alltag benötigen. Jette lernt dieses in ihrem Hausgebärdensprachkurs nach ihren Bedürfnissen und ihrer Lebenswelt. Alles was gerade aktuell wichtig für sie ist.

Zum Beispiel vor der Schule war die Vorbereitung auf die Schule wichtig. Da wurde das Fingeralphabet thematisiert. Oder Gebärden zum Einkaufen. Der Einkaufszettel wurde mit dem Aufzeigen des entsprechenden Fingeralphabets geschrieben. Dann ging es zur praktischen Umsetzung: gemeinsam einkaufen gehen.

Zuerst findet im Hausgebärdensprachkurs die Annäherung zu den entsprechenden Gebärden statt und dann wird es mit einem praktischen Teil nochmal gefestigt. Eins der Ziele des Hilfeplans war auch, dass Jette schwimmen lernt. Da wurden die entsprechenden Gebärden gezeigt und erklärt und verschiedenes dazu geübt. Zum Schluss ging es natürlich ins Schwimmbad und im praktischen Umgang wurden die Gebärden nochmal wiederholend angewendet. Das gleiche auch mit dem Zoo-Ausflug. Natürlich findet der Hausgebärdensprachkurs überwiegend zu Hause statt. Alles kindgerecht. Es wird auch mal was gebastelt. Die kleinen Ausflüge sind ein Highlight und finden eher selten statt und sollen den Hausgebärdensprachkurs auflockern, so die Dozenten. Wir finden das gut.

 

Wie gesagt, es geht völlig nach Jettes Bedürfnissen und was gerade bei ihr das Thema ist. Im Hilfeplangespräch werden auch Ziele festgelegt, die erfüllt werden müssen. Darunter auch die Unterstützung im Bereich Schule im Rahmen von Hilfe zur angemessenen Schulbildung. Da werden einige Themen in Gebärden visualisiert und erklärt. So versteht sie die Inhalte viel besser. Gebärdensprache ist ja so schön bildlich. Das kann man sich gut merken.

In unserem Elternkurs läuft es natürlich anders ab. Hier geht es darum, einen Vorsprung aufzubauen und Themen rund um die Erziehung zu erlernen. Zum Beispiel auch Regeln gebärden zu können, etwas erklären zu können oder Konflikte in Gebärdensprache zu lösen. Natürlich gehört auch das Vokabular, auch das freie Unterhalten üben sowie auch Bücher vorlesen dazu.

Also Kinder und Eltern lernen unterschiedlich, deshalb gibt es schließlich zwei Kurse. Wenn uns im Alltag Gebärden fehlten, haben wir die Vokabeln aufgeschrieben und die Dozenten haben sie beim nächsten Besuch mit uns geübt.

Familie von Deetzen auf YouTube

Auf YouTube könnt ihr mit Jette und Nadine DGS Vokabeln lernen.

Ich brauche die DGS zum Leben

Ich liebe die Gebärdensprache. Die gehört zu mir genauso wie die Lautsprache. Den Alltag ohne DGS kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, das wäre schrecklich. Dann fehlt ja was. Ich brauch das zum Leben. Ich finde es toll, wenn jemand die Gebärdensprache kann. Hier zu Hause ist es schön, wenn wir gebärden. Cool ist auch, wenn wir beim Einkaufen gebärden und die anderen Leute verstehen gar nichts.
Jette von Deetzen

Was hat sich dadurch für Jette konkret verändert?

Für Jettes Entwicklung war und ist die Gebärdensprache ein großer Meilenstein. Sie hat schon vor der Schule das Fingeralphabet gelernt, und konnte dadurch viel schneller lesen und Buchstaben verbinden wie die anderen Kinder, Sie hat dann immer mit den Fingern mitgelesen, um schnell zu erkennen wie der Buchstabe gesprochen wird. Seit wir in DGS kommunizieren ist sie viel ausgeglichener, entspannter und einfach glücklich. Dieser ständige Kampf: sich anpassen zu müssen, alles verstehen zu müssen, sprechen zu müssen, ist vorbei. Jette musste sich schon früh immer anpassen, um überhaupt etwas verstehen zu können. Jetzt können wir uns Jette anpassen und benutzen die Gebärdensprache. So ist eine durchgängige Kommunikation gewährleistet. Situationen, in denen es für Jette unmöglich war, dem Gesprochenen zu folgen, sind entspannt.

 

Noch besucht Jette die Regelschule ohne Dolmetscher. Sie ist eine gute Schülerin, mittags ist sie aber oft erschöpft vom Hörstress und so ist es entspannter, wenn die CI´s auf den Schrank fliegen und wir einfach in Deutscher Gebärdensprache kommunizieren. DGS bedeutet Entspannung, Leidenschaft, Liebe, Sicherheit…… Sie gehört einfach dazu und ist nicht mehr wegzudenken. Jette hat im Laufe der Zeit die Unsicherheit verloren und ist mittlerweile ein selbstbewusster Teenager geworden. Das macht uns stolz. Wir haben uns bewusst für taube Gebärdensprachdozenten entschieden, dieses war für Jettes Identifikationsfindung durchweg positiv. Sie hat jemand an Ihrer Seite, der genauso taub ist wie sie, der genau wie sie immer wieder auf Barrieren trifft und der ihr die Gehörlosenwelt zeigt. Sie erlebt so, dass man auch taub gut durchs Leben kommt.

Es muss nicht alles gehört werden. Mit Ihnen kann Jette Erfahrungen austauschen. Jette ist hier klar im Vorteil ist, weil sie selbst entscheiden kann wann sie hören oder nicht hören will. Diesen Vorteil nutzt sie gerne in den Konflikten mit Ihren Brüdern.

Wir pflegen die Kontakte in die Gehörlosengemeinschaft genauso wie die Kontakte zu den Hörenden.  Unser Ziel ist es Jette beide Kulturen zu zeigen, mittlerweile ist es so, dass Jette sich in beiden Kulturen richtig wohl fühlt. Sie hat hörende und gehörlose Freunde. Für Jette ist es immer schön, wenn das Gegenüber auch die Gebärdensprache beherrscht. Das gilt auch für mich. Ich fühle mich auch in beiden Kulturen wohl.

DGS hat unser Leben bereichert

Die Gebärdensprache hat uns als Familie noch mehr zusammengebracht. Der Alltag ist so unbeschwert. Es ist eine richtige Erleichterung und das Beste was wir tun konnten.